Lettland / Estland:
Bewegungen am Rande Europas

Es ist erst 10 Jahre her seit die Baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit zurück erhalten haben. In dieser kurzer Zeit hat sich im ganzen Baltikum (Litauen, Lettland und Estland) alles so schnell und grundlegend verändert, wie wir uns das kaum vorstellen können. Vor allem in den ersten 2-3 Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Situation für die Bevölkerung sehr unübersichtlich und existenzbedrohend. Inzwischen werden nicht mehr nur die Reste des Sowjetsystems zerstört, es wird auch aufgebaut. Zum Beispiel sind die mittelalterlichen Altstädte von Riga und Tallin fast völlig renoviert und und ganz allgemein wird viel gebaut, vornehmlich riesige Shoppingcenters. Das sind nur äussere Zeichen für die grosse Umwandlung. Im Innern gehen die Veränderungen viel tiefer und nicht allen Menschen ist die Anpassung an die neue Lebenssituation gelungen. Nicht desto trotz sind Litauen, Lettland und Estland seit Herbst 2002 Mitglieder der NATO und werden im Sommer 2004 der EU beitreten.

Alle Baltischen Staaten haben mehr oder weniger grosse Russische Bevölkerungsanteile. Diese wurden zu Beginn der Unabhängigkeit an den Rand gedrängt. Seit kurzem ist die Stimmung entspannter und im Zusammenleben wird pragmatisch mit den sprachlichen und kulturellen Unterschieden umgegangen.

In der Sowjetunion wurde Kultur sehr gefördert, das technische Niveau der Musiker, Tänzer und Schauspieler war sehr hoch und die Ausbildung umfassend und intensiv. Aber was auf die Bühne kam, wurde streng zensuriert und war aus westeuropäischer Sicht oft ziemlich verstaubt und konservativ. Langsam wird nun neue Wege gegangen und mehr kulturelle Vielfalt zugelassen. Die grossen Kulturinstitute wie die Oper in Riga suchen hin und wieder die Zusammenarbeit mit ausländischen Künstlern, aber sie können sich die hohen Gagen nicht so ohne weiteres leisten und haben daher Mühe aus der Isolation zu kommen. Im Theater ist es noch schwieriger, da nun in Estnisch, Lettisch oder Litauisch gespielt wird. Diese Sprachen sind sehr "klein". Die Schauspieler kommen aus den immer gleichen, altmodischen Schulen (ca. 2 pro Land) und wurden zum Teil über zwei Generationen von den gleichen Lehrern unterrichtet. Bei den Regisseuren ist die Situation ähnlich. Weder das Publikum noch die Künstler selbst scheinen modernes Theater zu kennen.

Im Tanz gibt es zwei verschiedene Richtungen:

  • Es gibt eine unglaublich grosse Volkstanztradition. Allein in Riga sind etwa 6-8 grosse Volkstanz-Kompanien mit je 30 und mehr Paaren aktiv. Diese Gruppen bestehen nur aus Laien. Speziell in Lettland finden sich Tausende aktiver Volkstänzer. Auch in der öffentlichen Schule wird (Volks-)tanz unterrichtet. Man kann also davon ausgehen, dass praktisch jedermann mindestens einmal in seinem Leben Tanzunterricht erhalten hat!
  • Natürlich ist da das Ballett russischer Tradition. Jedes Land hat seine eigene Nationale Ballettkompanie, die am jeweiligen Opernhaus in Vilnius, Riga und Tallin zu hause ist. In Riga sind es 65 Tänzerinnen und Tänzer. Das Repertoire ist sehr gross und ausschliesslich klassisch. Im Gegensatz zu Westeuropa, wo die Tänzer einer Kompanie aus aller Herren Länder kommen, arbeiten hier die meisten Tänzer in ihrem Heimatland und wechseln nie ihr Engagement. Nach der Ballettschule treten sie in die Ballettkompanie ein und verlassen sie erst bei ihrer Pensionierung. Die Staatlichen Ballettschulen jedes Landes liefern Jahr für Jahr den Nachwuchs dazu.

Doch es bewegt sich etwas im "Untergrund". In jedem Baltischen Land gibt es zeitgenössische Kunst, die sich langsam aber kontinuierlich ihren Platz verschafft. Vor einigen Jahren waren es noch Einzelpersonen, heute sind es kleine Szenen. Subventionen für freie Kunst gibt es (noch) kaum, aber mit dem Beitritt zur EU wird sich in diesem Bereich hoffentlich einiges verändern.

Lettland

In Lettland gibt es seit knapp vier Jahren ein BA-Studium in Choreografie und Modernem Tanz an der Lettischen Kulturakademie in Riga. Die erste Gruppe von Studenten wird im Sommer 2003 das 4-jährige Studium abschliessen. Auf dem Unterrichtsplan stehen Moderner und zeitgenössischer Tanz, Ballett, Improvisation und Komposition, Yoga, Tai Chi und Akrobatik. Das Studium umfasst mit Kunst-, Musik- und Tanzgeschichte, Anatomie und Sprachunterricht aber auch einen breiten theoretischen Teil. Am Ende jedes Semsters finden öffentliche Vorstellungen statt. Auf dem Programm stehen Studentenarbeiten und Gastchoreografien. Das ist die erste fundierte Ausbildung in den Baltischen Staaten, die ohne weiteres mit ähnlichen Studiengängen in Westeuropa vergleichbar ist. Geleitet wird das Programm von Olga Zitluhina, die es mit der Unterstützung von British Council, Nordic Council und verschiedenen ausländischen Botschaften geschafft hat, Gastlehrer aus vielen europäischen Ländern nach Lettland zu holen und den Studenten eine breite und sehr intensive Ausbildung zu bieten. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, in wie fern es die jungen lettischen Tänzer und Tänzerinnen schaffen werden, ihre eigenen Arbeiten auf die Bühne zu bringen oder vielleicht auch im Ausland Engagements zu finden.

Bis heute gibt es nur eine wirklich professionelle, zeitgenössische Tanzkompanie. Die Olga Zitluhina Dance Company arbeitet seit sechs Jahren kontinuierlich und ist schon in Lettland, Litauen, Estland, Russland, Polen, Deutschland, USA, Schweden und Moldawien aufgetreten. Daneben gibt es einige unverwüstliche Einzelkämpfer, die meistens alleine arbeiten, u.a. Sergej Ostrenko und Arnis Silins.

Neu hat das Lettisches Tanzbüro 2002 seine Arbeit aufgenommen. Schon bald soll es eine feste Adresse in einem Gebäude der Lettischen Kulturakademie erhalten. Es ist ein Informationszentrum über Tanz im In- und Ausland und initiiert Projekte und Veranstaltungen oder koproduziert lokale Veranstaltungen.

Zum zweiten Mal findet im Juli 2003 eine Sommerakademie für Tanz statt und im November 2003 sollen mehrere Workshops und ein Treffen aller Baltischen Tanzschaffenden in Riga stattfinden.

Die Möglichkeiten, Choreografien auf der Bühne zu präsentieren, bleiben sehr schwierig: Die Unterstützung ist minimal, es ist zu wenig Proberaum in der Stadt Riga vorhanden und eine wirklich gut Bühne für Tanz gibt es nicht. Immerhin findet einmal im Jahr eine Art Plattform des lettischen Tanzschaffens im Dailes Theater in Riga statt. 2002 hat das lettische Nationalballett erstmals eine Auftragschoreografie an Olga Zitluhina vergeben und es gibt Überlegungen eine fest subventionierte moderne Tanzkompanie in Leben zu rufen. Da die neue lettische Regierung die Kürzung der Kulturbudgets beschlossen hat, kann das aber noch eine Weile dauern...

Estland

Estland ist in Sachen zeitgenössisches Theater und Tanz schon viel weiter. Das liegt vor allem am Theaterproduzenten Priit Raud. Seit Anfang der 90-iger Jahre ist er an fast jeder Tanz- und Theaterplattform Europas präsent. Er hat Kontakt zu vielen grossen Festivals und Kulturzentren in Europa und ebenso gute Kontakte in Estland selbst. Konstant fördert er junge estnische Tänzer und Schauspieler und sucht ihnen fortlaufend Möglichkeiten, sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Diese Vorgehensweise hat sich gelohnt. Viele estnische Tänzerinnen und Tänzer arbeiten heute in ausländischen Produktionen oder können mit ihrer Arbeit ausserhalb Estlands auftreten. Zusammen mit einigen unerschrockenen Mitstreitern hat Priit Raud, wie er es selbst nennt, sein eigenes System neben den bestehenden Kulturinstiutionen aufgebaut. In der Altstadt von Tallin gibt es zwei alternative Spielorte: Von Krahli Theater und Kanuti Gilde. Hier findet eine beeindruckende Anzahl ausländischer Gastspiele statt, sowie immer wieder Premieren estnischer Produktionen. In der Kanuti Gilde findet sich zudem ein Proberaum und ein Büro zur freien Benutzung für Tänzerinnen und Tänzer aus Estland. Offenes Training jeden Morgen gibt es auch schon. Seit einem Jahr können Kompanien in Tallin in Residenz produzieren. Bis Ende 2003 ist schon alles mit Choreografen aus Russland, Belgien, Norwegen und natürlich Estland ausgebucht.

Seit einigen Jahren produziert der russiche Choreograf Alexander Pepelajev regelmässig in Tallin. Die Arbeitsbedingungen dort sind für Osteuropa aussergewöhnlich gut. Die Endproben zu "Swan Lake" waren bei meinem Besuch schon weit fortgeschritten. Eine freche und sehr politische Fassung des Schwanensees mit vielen Anspielungen auf die Sowjetunion und den real existierenden Sozialismus, der so viel Chaos und Tränen zurückgelassen hat. Aufführungen finden im Februar 2003 in Tallin und Berlin statt. Danach geht die Produktion auf Tournee, unter anderem natürlich auch nach Russland.

Für mich ist ganz klar, es bewegt sich etwas am Rande Europas. Es gibt Querdenker und Vordenker, die sich langsam einen Platz in festgefahrenen Strukturen erkämpfen und mit ihrem "neuen System" ganz auf der Höhe der Zeit sind. Ich denke, dass sich der Austausch zwischen dem Baltikum und den Mitgliedsländern der EU in Zukunft vertiefen wird. Die Schweiz spielt dabei keine Rolle, schade eigentlich.

Informationen:

Bettina Holzhausen, Februar 2003


Bettina Holzhausen war von September 2002 bis Januar 2003 Gastdozentin an der Lettischen Kulturakademie in Riga. Neben einem neuen Stück für die Studenten hat sie auch ihre Produktion "Capriccio" (1999) mit der Olga Zitluhina Dance Company neu einstudiert. "Capriccio" bleibt im Repertoire der Kompanie und wird in Lettland und anderswo aufgeführt.

 

Szenenfoto
Szenenfoto
Szenenfoto
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